Infernale – Sophie Jordan

Hast du das »Mördergen«, bist du automatisch ein schlechter Mensch, ein Mensch ohne Rechte – egal, ob du auffällig geworden bist oder nicht. Eine fesselnde Zukunftsvision, in der die Gene über die gesellschaftliche Klasse entscheiden.

Infernale

Eigentlich bin ich kein großer Fan mehr von dieser Sorte Jugendbüchern (Dystopie trifft All Age). Die meisten sind sich doch sehr ähnlich, weisen meist viele Stereotype auf, eine klassische Liebesgeschichte und können mich nicht mehr begeistern. Aber mir ist das Buch von verschiedenen Seiten ans Herz gelegt worden und so habe ich schließlich doch einmal reingelesen.

Als Davy in einem DNA-Test positiv auf das Mördergen Homicidal Tendency Syndrome (HTS) getestet wird, bricht ihre heile Welt zusammen. Sie muss die Schule wechseln, ihre Beziehung scheitert, ihre Freunde fürchten sich vor ihr und ihre Eltern meiden sie. Aber sie kann nicht glauben, dass sie imstande sein soll, einen Menschen zu töten. Doch Verrat und Verstoß zwingen Davy zum Äußersten. Wird sie das werden, für das alle Welt sie hält und vor dem sie sich am meisten fürchtet – eine Mörderin? (Quelle)

Davy ist das Abbild des guten, strebsamen und begabten Mädchens. Ein musikalisches Wunderkind, gebildet und aus gutem Hause. Sie hat eine beste Freundin, einen angesehenen Freund, bald den Abschluss einer teuren Privatschule in der Tasche und große Pläne für die Zukunft: Denn sie wurde an der Juilliard aufgenommen, einem Elite College für Schauspiel und Musik. Doch dann wird sie positiv auf HTS getestet und kann plötzlich an dem sozialen Leben, das se gewohnt ist, nicht mehr teilnehmen.

Davys ganzes Leben wird auseinander genommen. Sie wird zu einem Menschen zweiter Klasse degradiert und kann sich nicht dagegen wehren, sondern all das, was nach der Diagnose geschieht, nur hinnehmen. Damit zeigt Sophie Jordan auf grausame Weise, wie schnell das Leben aus den Angeln gehoben werden kann, wenn einem die Möglichkeit der Selbstbestimmung und freien Entfaltung entzogen wird und schreibt damit ein Plädoyer für die Sicherung und Wahrung der Grundrechte.

Gleichzeitig wirft das Buch viele Fragen auf, die mich auch schon beschäftigt haben: Was sagen die Gene über uns aus? Können wir unsere Persönlichkeit verändern? Oder sind unsere Handlungen und Reaktionen auf bestimmte Situationen von unserer genetischen Basis schon festgelegt? Inwieweit stellen genetische Dispositionen einen Rahmen dar, in dem wir uns bewegen und aus dem wir nicht ausbrechen können? (Unsere Persönlichkeitseigenschaften und Konstrukte wie Kreativität oder Intelligenz werden übrigens zum Teil aus den Genen und zu einem anderen Teil aus Umwelteinflüssen konstituiert. Dazu gibt es interessante Zwillingsuntersuchungen in der Psychologie.)

Damit entwirft Sophie Jordan ein spannendes Gedankenexperiment. An einigen Stellen habe ich mich gefragt, inwieweit es realistisch ist, dass ein Forscher so viel Macht ausüben kann – hätten an dieser Stelle nicht schon viele andere Experten protestieren müssen? Aber lässt man sich auf diese Konstruktion ein, ist sie erschreckend. Die Angst, die durch Mediengebrauch und Aussagen der Regierung unter der Bevölkerung vor den HTS-Trägern geschürt wird, ist so groß, dass sich auch engste Freunde von Davy abwenden. Es wirkt beinahe wie ein gesellschaftlicher Zwang, dass HTS-Träger ausgestoßen werden müssen, als könnte man mit „denen“ nicht befreundet sein. Davy muss lernen, was echte Freundschaft bedeutet, wie instabil eine Familie sein kann und das Geld an einem Punkt versagt.

Das Buch vermag zu fesseln und das ganz ohne lästige Tricks wie Cliffhanger. Sophie Jordan gelingt es in jedem Kapitel einen neuen Aspekt einfließen zu lassen, der einem zum Weiterlesen treibt. Die Sprache ist ruhig und locker, etwas zum flüssigen Weglesen. Wie angedeutet, gibt es wenig Action und wenig aktive Handlungen, stattdessen ist Davy wie ein Spielball, der von Situation zu Situation geschubst wird. Ich muss gestehen, dass mir die erste Hälfte des Buches besser gefallen hat, als die zweite Hälfte. Bei der zweiten Hälfte komme ich nicht umhin, mich an einigen Stellen zu wundern. Um Spoiler zu vermeiden, möchte ich hier aber nicht deutlicher werden. Dennoch hat mir das gesamte Buch und der Handlungsverlauf sehr gut gefallen. Auch die Idee mit den kurzen Dokumentausschnitten zwischen den einzelnen Kapiteln, die nochmal einen tieferen Einblick gewährten, hat mir gefallen.

Einziger Kritikpunkt: Sean. Hier ist wieder ein stereotyper Charakter aus dem Buch geschlüpft. Ein ganz tougher Kerl, der nicht in einer rosaroten Blümchenwelt aufgewachsen ist wie Davy und ihr daher zeigen muss, wie das richtige Leben läuft. Dabei ist er wortkarg, aber stark und attraktiv und zögert nicht, für den guten Zweck (und Davy) seine Fäuste einzusetzen. Selbstverständlich ist er aber einer der Guten, ein Schläger mit Herz. Wie ein dunkler Beschützer ist er immer zur Stelle, wenn Davy Hilfe braucht, ohne dafür jemals eine Gegenleistung einzufordern.

Tatsächlich wusste ich, sobald Sean erstmals auftritt, dass hier der männliche Gegenpart von Davy zu sehen ist. Schade. Funktioniert es wirklich nur so? Gibt es keine anderen Männertypen, die attraktiv sein können? Warum wird der »Nerd« Gil sofort als sympathischer Friendzone-Typ abgestempelt? Wirklich schade.
Davy verfällt natürlich sofort dem dunklen Charme ihres Beschützers (auch wenn sie ihn zu Beginn fürchtet). Sie möchte ihn kennen lernen und verstehen, was aber natürlich aufgrund seiner geheimnisvollen Aura nicht möglich ist. Gefühle zeigen? So etwas gibt es bei dem starken Helden natürlich nur in ganz kurzen Momenten.

Tatsächlich klingt meine Kritik an dieser Stelle böser als sie gedacht ist. Ich mag das Buch, ich hatte tatsächlich Freude am Lesen und möchte es nicht auf dieses eine Problem reduzieren. Denn bis auf diese typische Männerproblematik ist das Buch absolut lesenswert. Vielleicht ärgert es mich aus diesem Grund nur noch mehr, denn das Konstrukt Sean hinterlässt einen faden Beigeschmack.

Wem empfehle ich dieses Buch? Jedem, der Jugendbücher / All-Age mag, kein Problem mit einem männlichen Stereotyp hat, auch ruhige Bücher mit wenig Action mag und Lust hat, sich auf das Gedankenexperiment einzulassen.

Infernale ist als Hardcover bei unter der ISBN 978-3-7855-8167-4 bei Loewe erschienen und ist der erste Band einer Reihe.

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