Gedankenlesen? Auch wenn diese Fähigkeit im Titel auftaucht hat das Buch nur wenig damit zu tun. Vielmehr ist es eine leichte Geschichte über Verlust und Freundschaft mit einem Krimi als Handlungsaufhänger.
Valentin ist mit seiner Mutter umgezogen. Bis die Schule wieder beginnt, hat er Zeit, die neue Stadt kennenzulernen. Gleich an seinem ersten Tag stolpert er zufällig auf den Friedhof und lernt dort eine Reihe schrulliger und umso sympathischerer Figuren kennen.
Da sind die Schilinkys, die sich keinen Schrebergarten leisten können und daher bereits ihre Grabfläche gepachtet haben, um dort etwas Grün anzubauen. Jeden Tag sitzen sie dort und genießen gemeinsam mit den Friedhofbesuchern und dem Gärtner Bronislaw ihr mitgebrachtes Picknick. Oder da ist Dicke Frau, eine Obdachlose, die sich auch manchmal dazugesellt. Und Herr Schmidt, ein alter Mann, dessen Frau verstorben ist und die er regelmäßig auf dem Friedhof besucht.
Man merkt: Bei dieser bunten Truppe wird es sicher niemals langweilig. Mit seiner plötzlich auftretenden Fähigkeit, Gedanke zu lesen, und dem Überfall auf den Friedhofsgärtner Bronislaw begegnet Valentin mehreren Kriminalfällen und beschließt, ein kleines Detektivbüro zu gründen, um den Fällen auf den Grund zu gehen.
Jetzt habe ich erst gesehen, dass die beiden Schilinskys ihre Stapelstühle nicht auf dem Weg stehen hatten, sondern mitten auf einem Grab. Aber auf dem Grab fehlte der Grabstein. Dafür blühten da ein weißer Rosenbusch und ein roter Rosenbusch, und dazwischen blühten zwei rosa Lilien. Ob der Duft von den Rosen kam oder von den Lilien, konnte ich nicht so gut entscheiden. Auch nicht, ob die Pflanze hinter den Rosen wirklich glattblättrige Petersilie war und die daneben Zitronenmelisse. Aber das Maggikraut hab ich erkannt, davon hatten wir zu Hause immer so viel, dass Deduschka es an die Hühner verfüttert hat. Die wollten es nachher auch nicht mehr.
Der Junge, der Gedanken lesen konnte: Ein Friedhofskrimi, Kirsten Boie, S. 32
Kirsten Boie hat mit Valentin einen wirklich liebenswerten Charakter erschaffen. Vorurteilsfrei und offen geht er auf andere Menschen zu. Damit begegnet auch der Leser den auftretenden Figuren ganz offen. Geschickt konstruiert von Kirsten Boie: Die Personen, die außerhalb dieser Geschichte seriös wirken würden, treten hier unsympathisch auf, während die auf Plastikstühlen auf dem Friedhof Bier trinkenden Schilinskys die Sympathieträger sind. Und das ganz ohne moralisch erhobenen Zeigefinger!

Auch optisch macht der Friedhofskrimi übrigens etwas her: Die Illustrationen gefallen mir ausgesprochen gut.
Das Buch hat mich wirklich hervorragend unterhalten, es ist toll geschrieben, witzig und authentisch. Warum Valentin nun aber die Fähigkeit des Gedankenlesens brauchte, hat sich mir nicht ganz erschlossen. Auf all die Fälle hätte er auch auf normalem Wege stoßen können, ganz ohne diese Prise Fantasy. Vielleicht hätte es mir dann noch einen Ticken besser gefallen. Trotzdem gibt es eine klare Leseempfehlung. Ich freue mich schon, wenn ich es meinem Neffen zum Lesen geben kann.
Das Buch ist als Hardcover unter der ISBN 978-3-7891-3191-2 bei Oetinger erschienen.
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