Manchmal schlägt man ein Buch auf und weiß schon beim Lesen des ersten Absatzes, dass es das richtige ist. Ausdrucksstarke Worte, die einen in die Geschichte hineinziehen, eine Handlung, die zum Nachdenken anregt, eine neue Perspektive, die einen bereichert. Ich bin froh, dieses Buch gelesen zu haben – obwohl ich ihm erst kritisch gegenüberstand.
Ich habe »Der Zopf« von der lieben Chrissi von der Federecke geliehen bekommen. Ich hatte keinerlei Vorstellungen von dem Buch und habe auch im Vorfeld den Rummel darum nicht mitbekommen. Ein paar grobe Eindrücke habe ich gelesen und die klangen gar nicht soo positiv. Das Cover ließ mich einen typischen Frauenromen vermuten. Selbst den Klappentext habe ich nicht richtig studiert. Diese verschiedenen Punkte ließen mich eher mit niedrigen Erwartungen an das Buch herangehen. Und dann hat es mich umgehauen! Selten habe ich in letzter Zeit ein Buch so verschlungen.
Laetitia Colombani gibt in ihrem Roman Einblick in das Leben von drei Frauen, die in ganz unterschiedlichen Welten leben: Smita, die ihrer Tochter ein besseres Leben ermöglichen möchte als das ihre. Denn sie ist eine Unberührbare, wird von der Gesellschaft in Indien mit Füße getreten. Giulia arbeitet in der Perückenfabrik ihres Vaters in Sizilien und soll eines Tages das Familienerbe fortführen – plötzlich kommt dieser Zeitpunkt schneller als angenommen und die Verantwortung für den Betrieb und die Angestellten ruht auf ihren Schultern. Und Sarah, die ehrgeizige Anwältin in Montreal, die kurz davor steht, sich den Platz an der Spitze ihrer Kanzlei zu erkämpfen und bereit ist, ihr Leben dafür zu einem schwierigen Balanceakt zwischen Privatem und Beruflichem zu machen.
Aber heute ist kein Morgen wie jeder andere. Smita hat eine Entscheidung getroffen, die sich ihr in aller Deutlichkeit aufgedrängt hat: Ihre Tochter wird die Schule besuchen. Es war nicht einfach, Nagarajan davon zu überzeugen. Wozu soll das gut sein?, hat er eingewendet. Selbst wenn Lalita Lesen und Schreiben lernt, wird ihr hier keiner eine Arbeit geben. […]
Doch Smita hat nicht lockergelassen.Der Zopf, Laetitia Colombani, S. 18
Jede der drei Frauen hat ein Ziel, für das sie bereit ist, vieles zu opfern. Rückschläge halten sie nicht auf, sie sind bereit zu kämpfen und sich gegen andere durchzusetzen. Wer auch immer ihre Gegner sind: Der eigene Mann, die Familie oder die Kollegen. Und mit Rückschlägen hat jede von ihnen zu kämpfen. Zu gerne hätte ich noch mehr über die drei Frauen gelesen, wäre länger an ihrer Seite geblieben. Dabei war das Ende keinesfalls schlecht oder zu abrupt.
Besonders beeindruckt haben mich Smitas und Sarahs Geschichte. Laetitia Colombani gibt eine schonungslosen Einblick in die indische Gesellschaft und die Probleme, mit denen die Bevölkerung zu kämpfen hat. Smitas Erlebnisse sind grausam – ob es das Verhalten der anderen Kasten den Unberührbaren gegenüber ist, die Schilderung der Zugfahrt durch das Land oder die Ausweglosigkeit der Situation an sich. Das Leben der Anwältin befindet sich näher an meiner Lebensrealität und ist auf eine andere Art und Weise schmerzhaft. Die Schilderung, wie Sarah sich gezwungen fühlt, die Anwesenheit ihrer Kinder zu verstecken und in eine andere Rolle zu schlüpfen, weil sie sonst keinen Weg für sich sieht, ihre Karriereziele zu erreichen, wirkt erschreckend realistisch.
Natürlich wussten Ihre Kollegen, dass sie Kinder hatte, doch sie achtete penibel darauf, es ihnen nie ins Gedächtnis zu rufen. Eine Sekretärin durfte sich über das Zähnekriegen und Aufs-Töpfchen-Gehen auslassen, nicht aber eine aufstrebende Anwältin.
Auf diese Weise hatte Sarah eine undurchlässige Mauer zwischen ihrem beruflichen und ihrem Privatleben errichtet, beide liefen parallel zueinander, es gab keine Berührungspunkte. Die Mauer war fragil, zeigte hier und dort Risse, vielleicht würde sie eines Tages einstürzen. Sei’s drum. Ihr gefiel der Gedanke, dass ihre Kunder einmal stolz darauf sein würden, was sie aufgebaut hatte und wer sie war.Der Zopf, Laetitia Colombani, S. 44
Auch wenn der Roman auktorial erzählt wird und es kaum direkte wörtliche Rede gibt, hat er eine starke Sogkraft. Dies liegt zum einen an den aufwühlenden Themen, zum anderen an der Wortwahl der Autorin. Die Sätze sind kurz, dabei aber stark und pointiert, sie trifft genau den Punkt, egal, in welche Perspektive sie schlüpft. Die einzige Sache, die mir wirklich missfiel: Die teilweise bedeutungsschwangeren letzten Sätze der Abschnitte, kleine Cliffhanger, die das große Übel, das noch kommen mag, ankündigen. Darauf hätte die Autorin für mich auch gut verzichten können – die Geschichten waren auch so fesselnd genug.
Übersetzt wurde der Roman aus dem Französischen von Claudia Marquardt.
Von mir gibt es keine klare Leseempfehlung für alle, die Perspektivwechsel mögen und Lust haben, in drei ganz unterschiedliche Leben einzutauchen. Wer etwas hochliterarisches erwartet, ist hier allerdings falsch: Vielmehr handelt es sich um einen leicht geschriebenen Roman mit Sogwirkung – trotz schwer verdaulicher Themen.
Der Roman ist als Hardcover unter der ISBN 978-3-10-397351-8 bei S. Fischer erschienen.
Weitere Stimmen und Hintergrundwissen zu dem Buch:
- Sandrine vom Bücherkompass lobt die eindringliche Geschichte und hat sie noch Wochen danach im Kopf.
- Sabrina hat den Roman in zwei Tagen verschlungen und lobt den Schreibstil.
- Bookster HRO dagegen kritisiert die klischeehafte Handlung und empfindet die Formulierungen als abgedroschen.
- Auf der Website von S. Fischer gibt es ein Interview mit der Autorin Laetitia Colombani.